REINICKENDORF - Die Gemeinnützige Baugenossenschaft "Freie Scholle" im Ortsteil Tegel wird in diesem Jahr 100 Jahre alt. Heute eröffnet in der Humboldt-Bibliothek eine Ausstellung zur Geschichte und Entwicklung der denkmalgeschützten Siedlung.
"Ach, das war früher ruhig hier", erinnert sich mit leiser Wehmut Käthe Westphal, die 1927 in eine Genossenschaftswohnung der "Freien Scholle" zog. In ihrem Reihenhäuschen im Steilpfad, vor dem gerade die Kirschbäume herrlich blühen, wohnt die 88jährige seit mehr als 60 Jahren.
Per pedes unterwegs
"Nach Waidmannslust zum S-Bahnhof ging es früher immer zu Fuß, da fuhr ja nichts", erzählt Käthe Westphal. Dort wo jetzt Autos den Waidmannsluster Damm entlangbrausen, zuckelte damals höchstens ein Pferdefuhrwerk vorbei. Wie auf dem Dorfe wurden in den Anfangsjahren auch Hühner, Ziegen, Enten und Kaninchen gehalten.
"Und die Nachbarschaft, das war schon etwas Besonderes. Wir haben uns immer geholfen", lächelt Käthe Westphal und faltet die Hände im Schoß. Karin Schwarz, die wenige Häuser weiter wohnt, nickt: "Jeder kennt hier jeden, von der Anonymität einer Großstadt spürt man bei uns nichts."
Es sind nicht nur der Schwatz übern Gartenzaun und das eigene Gärtchen, sondern auch das Gemeinschaftsgefühl, das sich über Generationen entwickelte. "Hier weg - niemals!", sind sich die beiden Frauen einig. Ihre Familien wohnen bereits in dritter Generation im Viertel rund um den Schollenhof.
Auch Jürgen Hochschild, kaufmännisches Vorstandsmitglied der Genossenschaft, ist mit Leib und Seele "Schollaner". Ebenso wie seine Eltern und Großeltern wuchs er in der Siedlung auf, in der er jede Ecke kennt und viele der Bewohner. Besonderen Wert legt er auf die Mitsprache der Genossenschaftsmitglieder.
Bewährt hat sich dabei der 1912 gegründete Beirat, in dem heute Karin Schwarz mitarbeitet. "Im Jubiläumsjahr laufen wir auf Hochtouren", sagt sie. Für die rund 20 Veranstaltungen werden viele Hände gebraucht. Im Feiern haben die Bewohner allerdings eine lange Tradition. Das Schollenfest mit seinem Umzug ist seit Jahrzehnten ein Höhepunkt im Reinickendorfer Kulturkalender.
Seinen Amtsvorgängern ist Hochschild dankbar, daß sie penibel viele Unterlagen aufbewahrten, die die Entwicklung der "Freien Scholle" heute nachvollziehbar machen. Die drittälteste der 70 Genossenschaften Berlins wurde im August 1895 gegründet. "Alle Wohnungen erhielten Bäder, Toiletten und einen Garten, das war damals keine Selbstverständlichkeit", so der Vorstand.
Mit besonderer Hochachtung spricht er von Gustav Lilienthal (1849-1933), dem Bruder des berühmten Flugpioniers Otto Lilienthal. Er gilt als der Initiator der "Freien Scholle". Die Baugenossenschaft "bezweckt, dem kapitallosen Arbeiter ein freundliches, unkündbares Heim und eine wohlfeile Hauswirtschaft zu sichern sowie ihm einen zuverlässigen Broterwerb zu ermöglichen", formulierte es Lilienthal. Die Idee der Gartenstadt sollten die Bewohner sozusagen auf eigener Scholle verwirklichen.
Mit dem Bau der ersten Häuser auf dem Grundstück am Tegeler Fließ wurde 1899 begonnen. Brunnen für Trinkwasser fehlten zunächst - die ersten Bewohner mußten ihr Kaffeewasser aus dem Fließ holen. Der Bauhausarchitekt Bruno Taut hinterließ in den zwanziger Jahren seine Spuren in der Siedlung. So wurde auch der Schollenhof, der als Treffpunkt und Kommunikationszentrum vorgesehen war, von ihm entworfen.
In der Ausstellung, von Renate Amann und Barbara von Neumann-Cosel zusammengestellt, wird nicht nur die Entwicklung der Genossenschaft mit vielen Fotos und historischen Dokumenten lebendig. Kritisch wird beleuchtet, was schließlich von den Ideen Lilienthals in der grünen Siedlung verwirklicht wurde.
Gärten für Bewohner
Heute gibt es in der Siedlung 1434 Wohnungen, zu denen rund 600 Gärten gehören. Seniorentreff, Sozialstation und Jugendeinrichtung gehören ebenso dazu wie der berühmte "Schollenkrug" und die kleinen Läden am Hermsdorfer Damm. Was wünscht sich der Vorstand für die nächsten 100 Jahre? "Daß wir soviel wie möglich von dem Nachbarschaftsgeist bewahren können und eine Siedlung im Grünen mit bezahlbarem Wohnraum bleiben", sagt Jürgen Hochschild.